Paul Gehring im Interview
Paul Gehring wurde in einem kleinen holländischen Dorf nahe der deutschen Grenze geboren und hat bereits über die Hälfte seines Lebens an der Küste Maresme im Norden Barcelonas gelebt. Als authentisches Made in Europe-Produkt ist Gehrings Leidenschaft die Bildung und er ist dazu fähig, seine erfolgreichen Kurse in bis zu sieben verschiedenen Sprachen abzuhalten. Zwischen zwei seiner Reisen trafen wir uns mit ihm in einer gemütlichen japanischen Gaststätte im Zentrum der Stadt Condal, bevor er wieder seine Koffer für seine nächste Reise nach Deutschland packte.
Alles begann in Barcelona. Wie kam es dazu?
Ja, ich arbeitete in einem angesehenen Salon in Düsseldorf. Das war in den 80ern, ich war jung und beobachtete durch das Schaufenster des Salons, der sich in einer der berühmtesten Straßen der Stadt befand, wie das Leben an mir vorbeilief. Ich fühlte mich wie in einem Goldkäfig eingesperrt, aus dem ich entkommen musste. Und dann fragte mich einer meiner Freunde, der eine katalanische Freundin hatte: Paul, warum kommst du nicht einfach mit nach Barcelona? Ich verdiente gutes Geld und mein Chef konnte es kaum glauben: Sag bloß, du willst dein Gehalt in D-Mark gegen spanische Peseten tauschen. Aber ich packte meine Koffer, ging und ließ alles zurück und am Ende heiratete ich die Freundin meines Freundes (und ließ mich später wieder scheiden)!
Wie hat Ihre Arbeit in Katalonien begonnen?
Ich kannte niemanden, daher habe ich mich zunächst in Calella niedergelassen, einem traumhaften Dorf an der Küste Barcelonas mit tausenden von Touristen. Eines Tages entdeckte ich beim Zeitungslesen ein Interview mit Lluís Llongueras, in dem stand aus seiner Sommerresidenz Arenys de Mar. Calella und Arenys liegen sehr nah beieinander, also entschied ich kurzum, ihn zu besuchen. Das war ziemlich lustig. Ich suchte alle Straßen ab und fragte die Leute Entschuldigung, wissen Sie wo Llongueras wohnt? ... bis ich schließlich sein Haus fand und klingelte. Lluís ließ mich herein und ich zeigte ihm ein Video über meine Arbeit als Ausbilder in Deutschland, das ich mitgebracht hatte. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob es ihm gefiel, aber er sagte: Die Musik ist schön (Lachen) und das war der Beginn einer langen Arbeitsbeziehung, die viele Jahre hielt.
Was gefiel Ihnen während Ihrer Zeit bei Llongueras am besten?
Ich wurde geschult, um als Lehrer in seinem Institut zu arbeiten. Ich lernte ungemein viel, reiste als Ausbilder durch ganz Spanien und lernte so dieses wundervolle Land kennen. Das war ein toller Abschnitt meines Lebens. Ich verbrachte auch ein Jahr in Italien und arbeitete dort als Ausbilder von Llongueras. Seit dem Tag, an dem wir uns in Arenys kennenlernten, habe ich nie wieder in einem Salon gearbeitet. Mir lag und liegt einfach mehr das Ausbilden.
Wofür steht Frisieren in den Augen von Paul Gehring?
Meiner Ansicht nach muss Frisieren einen Sinn haben. Und der Sinn dabei ist, stets an den Endkunden zu denken. An seine Bedürfnisse und Wünsche. Ich war auf vielen Veranstaltungen, Wettbewerben und Weiterbildungen, bei denen Friseuren Frisuren präsentiert wurden, ohne darüber nachzudenken, ob das im wahren Leben überhaupt nützlich ist oder nicht. Und so etwas interessiert mich einfach nicht. Das bringt mir nichts.
Welches Modell des Frisierens befürworten Sie bei Ihren Weiterbildungen?
Das echte Frisieren, das man auf den Straßen sieht, wo konkret auf die Bedürfnisse und Wünsche der Kunden eingegangen wird und das Geschäft durch die richtigen Lösungen gefördert wird. Daher sprechen wir in unseren Kursen nicht nur von Gesichtszügen, Make-up und Farbmischungen, sondern insbesondere auch von der Kundenberatung und davon, ihre Erwartungen zu übertreffen. Und das erreicht man, indem man eine gute Kommunikation fördert und an der Stärkung der Empathie mit den Menschen arbeitet.
In diesem Sektor wurde noch nie zuvor so viel Wert auf Bildung gelegt
Das ist wahr, die Bildung ist heute wichtiger denn je. Sie ist jedoch immer noch nicht ausreichend. Die meisten Friseure sind in ihren vier Wänden eingeschlossen und es fällt ihnen schwer, dort herauszukommen und nach etwas Neuem zu suchen. An Kursen, Weiterbildungen, Seminaren teilzunehmen das hilft, aber man muss noch mehr tun. Das Internet ist beispielsweise ein sehr starkes Werkzeug mit unzähligen Möglichkeiten, die immer noch nicht ausreichend genutzt werden. Damit meine ich z. B. die Videos, ein wertvolles Format, das ich sehr oft verwende und von denen Millionen im Netz stehen. Sie enthalten viele Informationen und Kenntnisse und sie sind nur einen Klick entfernt.
Wodurch lassen Sie sich inspirieren, wenn Sie neue Kollektionen entwerfen?
Es gab eine Zeit, in der wir sehr den Arbeiten von Designern auf den Laufstegen von London, Milan oder New York gefolgt sind. Jetzt achten wir aber immer mehr darauf, was auf den Straßen der großen Städte vor sich geht so wie es auch die Designer selbst tun. Wir haben das Glück, viel zu reisen: Milan, Berlin, Rio de Janeiro, Barcelona, Amsterdam das sind Städte, in denen man auf den Straßen erkennen kann, was im Bereich Mode geschieht und die Tendenzen entdecken kann, die einen weltweiten Einfluss haben werden.
Welche Aspekte stehen bei Ihren Kursen an erster Stelle?
Der Geschmack. Beibringen, zu erkennen, worauf es beim Verschönern des Kunden ankommt, und für einen erstklassigen Service zu sorgen, der über allen technischen Voraussetzungen steht. Verstehen Sie mich nicht falsch, die Technik ist wichtig aber sie wird überbewertet. Was den Kunden vor allem interessiert, ist, dass sein Friseur einen guten Geschmack hat und das Beste aus ihm herausholen kann und gleichzeitig durch seine Gesten, Handgriffe und Haltung während des Services zeigt, dass die Person in seinen Händen in diesem Moment das wichtigste auf der Welt für ihn ist.
Und wie bringt man so etwas bei?
Indem man offen ist und lernt, die Kunden aus einer anderen Sichtweise zu betrachten. Dabei ist z. B. eine große Hilfe, wie in einem Kurs, den wir Best Age nennen, mit echten Kunden statt mit Modellen zu arbeiten: reife Frauen mit ihren wirklichen Problemen und Ängsten, denen wir echte Lösungen bieten. Dieser Kurs hat einen riesen Erfolg, dessen Ergebnisse vorher und nachher wir auf Facebook teilen und unglaubliche tolle Reaktionen erhalten. Was wir noch machen, vor allem mit Friseuren aus Nordeuropa, ist, sie nach Barcelona zu holen, damit sie lernen, sich fallen zu lassen und an ihrer Gestik zu arbeiten. Das sind sehr kreative Weiterbildungen, bei denen wir Köche oder Flamenco-Tänzer einladen, die ihnen beibringen, sich anders zu bewegen. Die Körpersprache im Friseursalon ist grundlegend!
Und umgekehrt, da Sie die Situation in Europa ja gut kennen, was können die Spanier Ihrer Ansicht nach von den nördlicheren Ländern lernen?
Ich denke, dass sie im Allgemeinen mehr auf einen Salon in guten Konditionen achten: auf ein gutes Design, höchsten Komfort für den Kunden, Extraservices Aspekte, an denen die meisten Friseure hier mehr arbeiten müssten.
Sie legen Jahr für Jahr tausende von Kilometern zurück, um Kurse auf der ganzen Welt zu leiten. Wie hält Ihr Körper das aus?
Nicht so gut, um ehrlich zu sein! (Lachen) Es ist schon merkwürdig, dass die Leute in unserer Gesellschaft immer breiter werden und die Sitze in den Flugzeugen immer kleiner und enger! Da ich fast jedes Wochenende außerhalb arbeite, ist es für mich gar nicht so leicht, auf mich zu achten. Nach einem langen Arbeitstag kann ich zwischen Joggen und einem Glas Wein wählen und ich muss zugeben, dass ich mich in letzter Zeit eher für das Glas Wein entscheide oder auch zwei! (Lachen)
Von Sergi Bancells